Gottschalk - Gottschalk

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Durchfahrt Schlutup

Der Übergang
Das graue Land
Zurück nach Deutschland 1989

Heimweh
Dazwischen
Ende Tod Geschichte
Flaschenpost

Später
Lübecker Tagebuch
Nur die Harten...

Der Pass

Es war ein Junitag wie er sein muss, schön und warm, frühsommerlich, doch ihnen war kalt, sie schwiegen, nur die Gedanken liefen auf Austausch, unsichtbar, drahtlos, die ganze Zeit.

Sie waren auf dem Weg nach Berlin, Ostberlin, denn sie sollte einen Pass bekommen und das machte diesen Tag so grundsätzlich anders.

Im Stillen hoffte sie immer noch, den Pass nicht zu bekommen, ihre Koffer hinten im Auto nicht zu benötigen, zwei waren es, „Überlebenskoffer“ - für die andere Welt.

Die Oranienburgerstraße war heiß und hässlich wie immer. Sie ging hinein in die Tür, wo der Pass auf sie wartete.

Er blieb draußen vor der Tür, auf der anderen Straßenseite, die sie bald drei Jahre trennen sollte, das wusste sie noch nicht, als sie die knarrende Treppe hinauf ging.

Sie ging also die Treppe hinauf, es war ein altes Haus und ein altes Sekretariat mit einer netten Frau, gesichtslos geworden, „ja ich weiß“, hörte sie sie sagen, schaute sich um, sah weitere Türen, die wohl zu dem Herren der Pässe führten,

„hier, ich brauche noch eine Unterschrift“, hörte sie die gesichtslose Frau wieder freundlich sagen, sie schaute immer nur auf diese Türen, jeden Moment gefasst, dass sie sie hineinsogen, wie in ein schwarzes Loch. Es war sehr still, fast friedlich. Sie hielt die Anspannung fast nicht mehr aus.

Sie musste wohl unterschrieben haben, denn sie bekam den, einen Deutschen Pass und Geld, 50 Deutsche Mark, die natürlich gegen Quittung, wieder mit Unterschrift.

Es dauerte keine Viertelstunde, in ihr lief ein Leben ab und sie stand draußen, jetzt vor der alten schweren Tür – mit dem Pass, dem Geld, dem Leben.

Wie sie auf die Strasse kam, wusste sie nicht mehr, die äußere Hitze schlug ihr entgegen, konnte jedoch nichts gegen die Kälte in ihrem Herzen ausrichten.

Er stand gegenüber und wartete, sie hatte den Pass, sie sahen sich an, still, sekundenschnell, und jeder wusste was das Bedeutete. Das Schweigen wurde lauter, so laut, dass sie hätte schreien können. Es hätte ein ganz normaler Tag sein können. Ihnen blieben noch drei Stunden oder vier. Die andere Welt zeigte sich schon, denn sie konnte eine Fahrkarte kaufen, eine Fahrkarte mit einem Ziel, das es ohne Pass nicht gab oder zu geben hatte.

Sie aßen noch Etwas oder taten so, was lag näher, die andere Straßenseite zu benutzen, gleich durch den Tränenpalast, doch der Weg durch dieses Land bestand aus Umwegen.

Die Minuten vor der Abfahrt des Zuges waren wie unter einer Reißleine, sein Kopf lag in ihrem Schoß, sie wollte nicht einsteigen, die Abteiltür war offen, aber nur für sie.

Der Zug fuhr tatsächlich an, mit ihr, dem Pass und ihrem Leben, im Koffer seine Einsamkeit und seine Verzweiflung.

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Stunden später.

Es ist Nacht. Mein Zug hält, der Interzonenzug. Sie kommen Ich habe Angst – hier ist es also das Ende der Welt, meiner Welt, 33 Jahre, Zeitende.

Prüfender Blick und Vorlegen der Reisedokumente, fürchterliche Beklommenheit – vorbei. Nun, junge Frauen. Zackig, militärisch – nie gelebte Zeit als Erinnerung wird wach, wiederholen sich die Zeiten? Haben wir das Jahr 33 oder 86, was ist Wirklichkeit? Man wird darüber noch nachzudenken haben.

Ich muss raustreten, ein Alptraum? Ich kann nicht erwachen, weil ich nicht schlafe. Ein junges Ding schmeißt sich auf den Fußboden, den unsauberen, in jedem Abteil, jederzeit einen Schwarzfahrer zu erspüren, schlimmer noch einen Grenzverletzer, einen Flüchtling aus dem Alptraum. Mein Fuß hebt sich schon und hat einen fast unwiderstehlichen Wunsch in mir ausgelöst, niemals wieder hatte ich so ein Hassgefühl.

„Grüß Gott“, „hat noch jemand einen Wunsch?“. „Weiß Gott“, der Bundesgrenzschutz als Schutzengel, wer hätte das gedacht.

Es schüttelt mich, der Alp drückt mich, in mir erzittert etwas. Später erst hole ich die zerborstenen Jahre heraus, viel später. Grenze, Stacheldraht und Todeszaun - vorbei. Ich finde mich am offenen Abteilfenster wieder, meine Tränen sind wie ein Stausee, den man geflutet hat, keine Chance ihn zu aufzuhalten. Lautlos schütteln mich die Tränen, es bricht immer noch heraus – was weint denn da so entsetzlich in mir? Ich vernehme immer wieder einen Satz, ganz leise, „warum“, so höre ich „warum und mit welchem Recht so eingesperrt zu werden, schlimmer als einen räudigen tollwütigen Hund, warum“ – diese Gedanken schütteln und rütteln an mir, jedes Körperteil verselbständigt sich. Wütend meldet sich die Stimme der Aggression - heimatlos geworden, getrennt von Kindheit und Erwachsensein, Ankunft in Hannover 2:46Uhr 11.06.1986. Am Abend wird jemand zu mir sagen, dass ich doch wohl Geburtstag hätte, heute.

Briefwechsel .Scheinbrief. Mein Lieber,

durch das Telefongespräch ist es mir etwas leichter ums Herz geworden. Aber ich möchte nicht, dass Du deinen Schritt bereust. Ich möchte Dich auf keinen Fall verlieren, aber ich kann Dich nicht in ein Leben zwingen, dass Du vielleicht gar nicht willst. Du hast gesagt, Du willst keine Scheidung. Bedenke, es können Jahre vergehen, bis wir uns die Hand geben können. Es wird für Dich viel Schweres und Nervenaufreibendes zukommen. Solltest Du dennoch bei dem Gesagten bleiben möchte ich Dir im Folgenden einiges Bedenkenswerte mit auf den Weg zu geben. Du musst Dich nicht danach richten, aber ich fühle mich verpflichtet, Dir etwas von der Schwere Deiner Entscheidung abzunehmen.

(Kommentar aus Stasiakte „ Die Gottschalk gibt schriftliche Anweisungen ....“).

Tagebuchnotizen

Antrag auf „Sowjetzonenflüchtling“ gestellt, Chance einen Ausweis zu bekommen ist gering, ich habe nur innere Verletzungen.

Cossebaude, Mein Liebes,
natürlich habe ich Dir lange nicht geschrieben, aber meine Zeitsituation kannst Du Dir ja auch vorstellen. Zu Schreiben heißt ja aber auch, sich festlegen auf alles Mögliche. Ich brauche mich nach unserem Telefonat und unseren Briefen auf nichts mehr neu festlegen, es ist alles Wichtige zwischen uns klar und die Zeit arbeitet für uns. In jedem Fall. Wenn ich komme, werde ich sicher ein anderer sein als der, den Du verlassen hast, auch Du wirst Dich verändert haben. Wir werden manches(fast alles) neu beginnen müssen. Na wenn schon – ich würde Dich immer wieder heiraten! Aber wir sind ja in einer Weise verbunden, aus der uns keine menschlich-weltliche Macht entfernen kann. Sosehr ich unter der gegenwärtigen Situation unserer Trennung leide, sosehr hoffe ich, dass ich mich nie daran gewöhnen kann. Es wird auch nicht sein.

Flaschenpost

Liebesbrief
Ich sage Dir nicht, dass Du mir fehlst,
ich bin gar nicht traurig,
mir geht es sogar gut.
Meine Stärke zerbricht jeden Abend neu,
und wird zu Wasser.
Nicht einmal die Gebote der Sonnenblumen helfen mir,
nein, ich weine nicht,
es ist nur Wasser,
denn ich vermisse Dich nicht,
es geht mir gut.

Murmeltierzeit

Es war ein Junitag wie er sein muss, schön und warm, frühsommerlich, doch uns war kalt, wir schwiegen, nur die Gedanken liefen auf Austausch, unsichtbar, drahtlos, die ganze Zeit. Wir waren auf dem Weg nach Berlin, Ostberlin, denn ich sollte einen Pass bekommen und das machte diesen Tag so grundsätzlich anders. Im Stillen hoffte ich immer noch, den Pass nicht zu bekommen, meine Koffer hinten im Auto nicht zu benötigen, zwei waren es, „Überlebenskoffer“ – für die andere Welt.

Die Oranienburgerstraße war heiß und hässlich wie immer. Ich ging hinein in die Tür, wo mein Pass auf mich wartete. Er blieb draußen vor der Tür, auf der anderen Straßenseite, die uns bald drei Jahre trennen sollte, das wusste ich aber noch nicht, als ich die knarrende Treppe hinauf ging. Ich ging also die Treppe hinauf, es war ein altes Haus und ein altes Sekretariat mit einer netten Frau, gesichtslos geworden, „ja ich weiß“, hörte ich sie sagen, ich schaute mich um, sah weitere Türen, die wohl zu dem Herren der Pässe führten, „hier, ich brauche noch eine Unterschrift“, hörte ich sie wieder freundlich sagen, ich schaute immer nur auf diese Türen, jeden Moment gefasst, dass sie mich hineinsogen,; ich muss wohl unterschrieben haben, denn ich bekam den, einen Deutschen Pass und Geld, 50 Deutsche Mark, die gegen Quittung, wieder mit Unterschrift. Es dauerte keine Viertelstunde, in mir lief ein Leben ab und ich stand draußen, jetzt vor der alten schweren Tür – mit dem Pass, dem Geld.

Wie ich auf die Strasse kam, weiß ich nicht mehr, die äußere Hitze schlug mir entgegen, konnte jedoch nichts gegen die Kälte in meinem Herzen ausrichten. Er stand gegenüber und wartete, ich hatte den Pass, wir sahen uns an, sekundenschnell, und jeder wusste was das bedeutete. Das Schweigen wurde lauter, so laut, dass ich hätte schreien können.

Es hätte ein ganz normaler Tag sein können, für uns war es D-day minus X. Uns blieben noch drei Stunden oder vier; ich weiß es nicht mehr. Die andere Welt zeigte sich schon, denn ich konnte eine Fahrkarte kaufen mit meinem Geld, eine Fahrkarte mit einem Ziel, das es ohne Pass nicht gab oder zu geben hatte.

Wir aßen noch Etwas oder taten so, was lag näher, die andere Straßenseite zu benutzen, gleich durch den Tränenpalast, doch der Weg durch dieses Land besteht aus Umwegen. Die Minuten vor der Abfahrt des Zuges nach Nirgendwo waren wie unter einer Reißleine, sein Kopf lag in meinem Schoß, ich wollte nicht einsteigen, die Tür war offen, aber nur für mich. Gut, dass wir nicht die Fähigkeit haben, in die Zukunft zu sehen. Der Film begann, ohne Kamera, ohne Regisseur, nur dass es kein Spiel war, hier war alles real.

D-day minus X

Die verfallenen Fassaden blickten aus ihren Fensterhöhlen auf sie herab, an der Ecke standen drei Männer mittleren Alters, Bierdosen in den Händen haltend, es war kurz vor halb zehn, die Sonne schien auf den schmutzigen Schnee. Sie sah die Straßenbahn, den Kiosk, den Bäckerladen, die Menschen, den Schnee, die Sonne, den fahlen Himmel;

Es war still, kein Laut drang zu ihr vor, obwohl sie mitten unter all Jenem lebte, atmete – nur der Schmerz erreichte sie, umklammerte ihr Herz, bis Tränen ihr Erleichterung schafften. Sie sah sich gehen, die Strasse hinunter bis zur Schranke, eine Eisenbahnschranke. Sie wusste, dass sie schon viele Male hier gewesen sein musste, und doch war es so fremd. Auf dem Rückweg ging sie die gleiche Strasse hinauf, die Sonne im Rücken, vorbei an den Männern im Overall, die noch immer eine Bierdose haltend miteinander erzählten und lachten, hinauf zum Platz mit seinen grauen Fassaden, am ehemaligen Stasigefängnis vorbei,

hinauf zum Platz, der immer noch „Platz der Freiheit“ hieß, so als wäre nichts geschehen, 50 Jahre lang - nichts – die Sonne schien ihr nun wieder ins Gesicht, der Schnee war matschig geworden und der Schmerz so stark, dass sie die Tränen nicht zurückhalten konnte. Sie hatte das Gefühl, giftige Dämpfe einzuatmen, die von einer gut bekannten Hydra stammten, von der alle behaupteten, sie sei tot. Sie gab ihren gesunden Atem ab und nahm das Gift in sich auf. Widerwillig. Nein, sie täuschte sich nicht, es war das gleiche Gefühl nicht mehr atmen, nicht mehr leben zu können, Jahre liegen dazwischen, „es ist wie gestern“, so ihre Gedanken. Sie war nicht immun geworden, stellte sie mit Entsetzen fest, im Gegenteil, alles war empfindlicher, größer, schmerzhafter. Sie blieb mitten auf dem Fußweg stehen und fragte sich „wo ist der Unterschied?“ Angerempelt, bewegte sie sich langsam weiter, ganz langsam, irritiert und erleichtert, der Schritt war fest – sie ging durch den Matsch, die Menschen, die Straßenbahn, die Sonne, den fahlen Himmel, tief einatmend und niemand hielt sie auf.
„ES“war vorbei.

Eine Episode in der Geschichte, aufgebraucht.

Sie ging, ohne sich umzudrehen, zurück in ihre eigene Geschichte.

Deutschland 1989

Zurück nach Mecklenburg 1989
eröffentlicht in: "Von Idioten umzingelt" HERJO-Verlag Hamburg
Es ist Weihnachten,
Sie wollen die Pässe, nicht mehr mich.
Ich habe Angst.
Angst vor dem Zurück.
Schlutup Selmstorf Dezember 89
Der Blick war nicht frei. Ist er es jetzt?
Man übt sich im Vergessen.
Noch liegen sie hier die Eisennägel, Krampen, Haken,
die das gesamte Gerüst zusammenhielten.
Es ist kein Raum für Wünsche.
Hass hat sich ausgetobt, gegen etwas das sich wie Nebel schon wieder aufzulösen beginnt.
Nein, wir sollten nicht vergessen.
Selbst die Pfütze ist noch vergittert, es regnet.
So spiegelt sich hier der Himmel wieder.
Immer noch.

Richtung Westen
Ich kann durchatmen, der Blick ist frei.
Richtung Osten.
Es sieht aus, wie nach einem Krieg.
Die Akteure sind verschwunden, unbehelligt,
wie immer in der Geschichte, ohne Schaden zu nehmen.
Die Durchfahrten sind noch nummeriert.
Wir brauchen Sie nicht mehr.
Die Nummern.
Durchfahrten von Deutschland nach Deutschland werden nicht mehr nummeriert,
registriert,
dokumentiert.
Schlutup-Selmstorf,
die Durchfahrt wurde Sackgasse.
Ein neuer Weg wird gebaut, nach 40 Jahren.
Über wessen Unrecht wird heute noch geredet.
Vorposten
Kreuze im Asphalt.
Niemand betet.
Es wurde geschossen, wenn nötig.
Das war geltendes Recht und darum heute kein Unrecht.
Verstanden?
Der Blick ist weiter geworden.
Der Turm ist leer.
Die neue Strasse ist befahrbar.
Straßenlaternen, die das Feld beleuchten.
Totes Feld oder Todesfeld?
Wer will es noch so genau wissen.
Wir müssen hier nicht mehr durch.
Unsere Wege sind heute andere.
Sind sie deshalb einfacher?
Der Blick geht hinaus.
Der Spuk ist vorbei
Das Unrecht noch nicht.
Gerechtigkeit ist nicht einklagbar,
sondern muss gelebt werden.
Machen wir uns endlich auf den Weg.
Vergessen wir nicht,
der Alltag
schreibt die Geschichte.

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